Depressionen auf Kamel
Was sieht man auf dem Bild? Nicht viel, ich weiss.
Ich will Euch auf die Sprünge helfen: man sieht ein Kamel
und darauf mich mit meiner ältesten Tochter im Arm…. das Ganze muss wohl 1993
entstanden sein – ein harmloses Foto von einem Ausflug in den Tierpark von
Herberstein, fotografiert von meinem damals schon Ex-Mann.
Alles was ich von diesem Ausflug noch weiss ist die
Tatsache, dass ich fast von diesem blöden Kamel gefallen wäre… weil ich meine
Augen kaum offen halten konnte. Den gesamten Ausflug dort habe ich völlig vergessen – es war sicher
schön da, aber ich weiss es einfach nicht mehr. Auch die Fahrt dahin und zurück
– total verschlafen.
Warum ich genau DIESES qualitativ schlechte Foto rauskrame
und abfotografiere? Hab ich nichts Besseres im Petto? Nein, habe ich nicht: es
ist für mich genau DER Moment (zumindest
in meinem Kopf) an dem fotografisch meine Depressionen fest gehalten wurde…
zumindest ein Teil der Auswirkungen, ein Teil der langen Irrfahrt.
Warum ich mich heute virtuell „nackig mache“? Darüber
schreibe? … weil es mir vorhin wieder aufgefallen ist, dass so viele Menschen
mit dem Begriff „Depressionen“ nichts anzufangen wissen. Zwei prominente und erfolgreiche Sänger (mit
Familie) haben sich dieses Jahr das Leben genommen – bei beiden lagen
Depressionen vor. Und vorhin bin ich – völlig entsetzt – über Veschwörungstheorie-Geschwurbel
gestolpert, wo zu lesen war, dass beide von einem Pädophilen-Ring umgebracht
worden seien.
Normalerweise lache ich über Verschwöungstheorie-Schwurbler…
das sind in meinen Augen einfach geistig arme Menschen, die zu viel Zeit haben
hirnlose Youtube-Videos zu gucken, die alles glauben, was man ihnen reisserisch
unter die Nase reibt (einzig Sorge macht mir, dass solche Menschen Kinder in
die Welt setzen können und wählen dürfen):
Chemtrails, Impfschäden, Reichsbürger, Aliens….
Aber in den Kommentaren stiess ich auf das Thema „Depression“
und bemerkte, dass so viele Menschen diesem Thema völlig ahnungslos gegenüber
stehen. Deshalb möchte ich heute Nacht darüber scheiben und dieses Foto als
Erinnerungmarker nehmen, das ich mir nicht so gerne ansehe… weil ich immer
schon gerne Herrin meiner Sinne war und bin.
Ich stehe jetzt virtuell auf und sage meinen Satz wie in
einer Selbsthilfegruppe:
Hallo, mein Name ist Martina und ich leide unter
Depressionen.
Ich weiss nicht wie lange genau, wenn ich allerdings darüber
nachdenke, dann hat es sich wohl ungefähr mit 17 oder 18 Jahren zum ersten Mal in
einer bestimmten Nacht für mich bemerkbar gemacht. Ich lebte damals noch zu
Hause bei meinen Eltern, zusammen mit meinem ersten Freund. Rückblickend weiss
ich heute, dass eine Welle an Problemen über mir zusammen schlug: ich steckte in
einer Beziehung, die ich nicht mehr wollte, sehnte mich nach einem anderen
Mann, der für mich unerreichbar war (später mein Mann, der Vater meiner
ältesten Tochter), um mich Eltern, die Stress miteinander hatten, Abitur vor
mir das ich unmöglich bestehen würde (so dachte ich), Geschwister die
problembeladen waren… weit und breit kein sonniger Anhaltspunkt, an dem ich
mich aufrichten hätte können, vor mir ein extrem steiniger Weg, hinter mir
einen Kindheit voller Mobbing-Erlebnisse und Erwachsenenprobleme…
In dieser speziellen Nacht war ich noch nicht so weise, ich
brach einfach mitten aus dem Nichts zusammen, heulte erst, schrie später und
hatte eine irrsinnige Zerstörungswut – ein Nervenzusammenbruch.
Am nächsten Morgen – die Scherben hatte mein damaliger
Freund schon entsorgt – ein Achselzucken meinerseits meiner Mutter gegenüber
stehend, die sehr wütend war darüber, dass ich die gläserne Seifenschale
zerbrochen hatte… die nie ersetzt werden konnte, weil sie ein altes Modell war,
das nicht mehr aufzutreiben war. Noch viele Jahre später erinnerte mich die
Plastikseifenschale unter der leeren Halterung derb an diese Nacht.
Dann passierte lange nichts… bis zum Jahre 1993, als sich
wieder mal alles über mir zusammen gebraut hat: Scheidung, eine beste Freundin,
die plötzlich nichts mehr von mir wissen wollte, eine neue Beziehung, die
nichts Gutes ahnen liess aber alles in meinem Leben verändern sollte. Ich hatte
immer öfter Aussetzer – Herzrasen mit Panikgefühl, Kreislaufkollapse (so
zumindest nannte ich es), konnte nachts
nicht schlafen, morgens nicht aufstehen… irgendwann ging ich zum Arzt und bevor
ich noch dran war, erlitt ich im Wartezimmer einen weiteren Kollaps. Ich wurde
ins Krankenhaus eingeliefert, wo ich eine Woche lange untersucht wurde und als
organisch absolut gesund wieder entlassen. Diagnose: muss wohl was Psychisches
sein und ich erhielt Tabletten – eine morgens, eine abends. Die abends war - so muss ich heute zugeben – wirklich angenehm,
ich konnte endlich schlafen… absolut traumlos und wie tot, aber ich schlief.
Die morgens war einfach nur krass – ich schlief in der Strassenbahn auf dem Weg
zur Arbeit ein, ich schlief ein während ich mit Kunden sprach, ich schlief auf
dem Weg zu Ausflügen ein und auf einem Kamel sitzend…
Ich setzte die Tabletten eigenmächtig ab, denn ich war
berufstätig, angewiesen auf das Gehalt und ich war vor allem allein erziehende
Mutter! Mich mit meinem Arzt auseinander zu setzen war mir einfach zu mühsam.
Ich hatte Probleme, die wollte ich angehen, stürzte mich auf
neue Taten, in die neue Beziehung, liess Altlasten hinter mir und vor allem
Freundschaften, die mich kaputt machten. Ich verliess meine alte Heimat für
eine neue Heimat, ich verliess meine Familie, die mich ganz offensichtlich
krank gemacht hat.
Neues Leben… neue Probleme zu den alten nicht verarbeiteten
dazu: eine völlig unvertraute Umgebung und ein cholerischer Partner, psychisch bedingter
Haarausfall und eine akute Erkrankung, die eine Operation erforderte. Die
Anzahl der Panikattacken erhöhte sich derart, dass es mir kaum noch möglich
war, das Haus zu verlassen.
Bevor ich fortfahre in meiner Chronik, möchte ich noch
erklären was eine Panikattacke ist: bei mir kam das schleichend, erst eine Art
Herzstolpern, dann ein Adrenalinschub bis zur Panik, in der man einfach nicht
mehr Herr über seinem Körper ist. Man
hat das Gefühl, die Luft würde einem abgedrückt, man hat schlicht und
ergreifend eine nicht in den Griff zu bekommende Angst auf der Stelle tot
umzufallen. Sobald dieses völlig überwältigende Gefühl vorüber ist, gibt es nur
diese totale Erschöpfung, eine Müdigkeit die kaum zu bändigen ist, ein Körper,
der verausgabt ist als hätte man soeben Hochleistungssport betrieben.
Eines Tages musste ich das Haus verlassen, um gemeinsam mit
meiner kleinen Tochter Zeug für die Schule zu besorgen. Ich musste beim Nachhauseweg
an jeder Station die S-Bahn verlassen, weil ich das Gefühl hatte in der Bahn
sterben zu müssen, meine Tochter im Schlepptau, die natürlich nichts verstand
und Angst um ihre Mama hatte. Die Strassenbahn schaffte ich gerade noch so bis
nach Hause, aber anstatt nach Hause zu laufen, fragte ich die erstbeste Person
auf der Strasse nach einem Arzt und hatte Glück, dass sich eine Praxis gleich
die nächste Gasse rein befand. Noch mehr Glück, dass sie eben schliessen
wollten, weil alle Patienten abgefertigt waren, die Ärztin aber sah, wie es mir
ging. Die Arzthelferin nahm sich meiner Tochter an während ich irgendwie zu
artikulieren versuchte, wie es mir gerade ging.
Nach diesem ersten Aufeinandertreffen folgten noch mehrere
und ich kann heute nur sagen, dass diese Ärztin wohl vom Himmel gefallen war,
wie ein rettender Engel. Sie half mir über die nächsten Jahre immer wieder,
nahm sich wahnsinnig viel Zeit für mich und hatte immer vollstes Verständnis
für meine Gefühle. Sie war Internistin mit Naturheilerfahrung und einer
unendlichen Geduld beim Zuhören… genau genommen, war sie meine Therapeutin mit
ihr gemeinsam konnte ich einige Altlasten und einige akute Probleme
aufarbeiten. Ich bekam mein Leben wieder in den Griff, änderte es nochmal ins
Positive und … „sie lebte glücklich bis an ihr Lebensende“ war leider noch
nicht in Sicht.
2003, zu einem - oberflächlich betrachtet – glücklichen Zeitpunkt,
erwischte es mich volle Breitseite. Ich stand mitten im Berufsleben und konnte
plötzlich kaum noch schlafen, war gefühlte Wochen permanent wach, döste nur
nachts bloss dahin und schleppte mich von einem Arbeitsalltag zum nächsten,
buchte zusammen mit meinem Lebensgefährten eine Urlaubsreise nach Thailand, um
diese zwei Wochen vor Antritt wieder zu
stornieren. Alles lief sonderbar lustlos, obwohl ich mich körperlich fit
fühlte.
Meine Ärztin, die mich mittlerweile schon recht gut kannte,
hörte sich meine Schlafprobleme an und knallte mir die Diagnose „Depression“
mitten ins Gesicht. Das war ein totaler Schock für mich, weil ich mich nicht „deprimiert“
fühlte, aber ich fing an darüber nach zu denken und je mehr ich dachte umso
mehr ergab alles einen Sinn. Ich musste Tabletten nehmen, immer mit der
Anweisung, über eine Therapie nach zu denken, wenn ich mich gedanklich in einer
Sackgasse befände.
Das war einer der letzten bemerkenswerten Marker in meinem
Leben als Depressionskranke. Was nicht
heisst, dass ich es hinter mir habe… sie sind immer noch da, erwischen mich
manchmal eiskalt und dann verkrieche ich mich, kann kaum Schlaf finden und
morgens nicht aus dem Bett, finde nichts an dem ich mich aufrichten kann, habe
auf nichts Lust und je mehr ich über Ablenkung nachdenke und nichts finde, umso
verzweifelter versinke ich in diesem grossen schwarzen Loch, das alles
verschlingt, das das Leben lebenswert macht.
Ich habe nur das wahnsinnige Glück, dass ich irgendwann mein
„Ich“ spalten kann und dann ausserhalb von mir stehe, mich betrachte und
irgendetwas finde, das mein Leben ein wenig auf den Kopf stellt. Bis jetzt …
keine Ahnung ob das immer so weiter geht, oder ob ich einmal an einen Punkt
gelange an dem dieses Über-Ich einfach nicht mehr kommt. Dann werde ich wohl
auch nicht mehr um einen Therapeuten herum kommen und ich hoffe, dass ich dann
Menschen um mich herum habe, die mich dazu bewegen können.
Lieber Leser, Du hast es bis hierher geschafft…
a)
Weil Du mich magst – Danke dafür
b)
Weil Du Dich angesprochen fühlst – Du bist nicht
allein, sei Dir gewiss
c)
Weil Du jemanden kennst auf den das zutrifft,
dann lies auf jeden Fall weiter:
Ich habe heute so oft in den Kommentaren unter Chester Bennington
und Chris Cornell davon gelesen, dass es einfach unverständlich ist, wie stark
Depressionen sein können… dass sie doch beide Familie hatten und Erfolg und
glücklich sein hätten müssen.
Das ist das Tückische an der Depression, sie wird
vielleicht durch diverse Dinge ausgelöst, aber wenn sie akut sind, steht man
als Aussenstehender da und versteht die Welt nicht – findet die Betroffenen „undankbar“
und wenn sie sich das Leben nehmen, dann werden sie als Egoisten abgestempelt.
Leider funktioniert dieses Denken nicht bei uns. Akute
Depressionen haben meist keine simple Erklärung, Depressionskranke können auch
nicht geheilt werden, es ist eine Krankheit, die – wie Alkoholismus – immer wieder
kommen kann. Es können weit zurückliegende Gründe vorliegen, muss aber nicht so
sein. Ein simples „Reiss Dich doch zusammen, Dir geht es so gut, Du hast doch
so viel Schönes in Deinem Leben“ , sind genau die verkehrten Worte. Wir sind
nicht grad mal schlecht gelaunt, wir haben ein echtes Problem, das wir, wenn es
soweit ist, nicht benennen können. Eine Aussage, wie :„Ach, sei doch nicht so
traurig, das Leben ist so schön“, reisst uns nicht aus dem Tief heraus, im
Gegenteil, es stösst und noch tiefer in den Selbsthass… das Leben ist so schön,
aber ich bin nicht in der Lage es zu sehen.
Jemand der so weit ist, dass er sich das Leben nehmen
will, der macht das nicht aus Egoismus, der denkt, dass all die Menschen die er
liebt, viel besser ohne ihn dran sind, ohne seinen überbordenden Schmerz und
Selbsthass.
Glaubt es mir, das Schlimmste an dieser Krankheit ist der
Moment, wenn man wie paralysiert seine eigenen Kinder wahr nimmt und von sich
selbst denkt, dass man selbst es nicht wert ist, so viel Glück und Schönheit
verdient zu haben…
Ich habe heute einen Kommentar gelesen, der lautete in
etwa so „Es ist so unvorstellbar, dass diese Menschen Depressionen haben, weil
man es nicht sehen kann – wenn ich traurig bin, dann sieht man es mir an, dann
kann ich das nicht verbergen.“
Das hat mich nachdenklich gemacht, denn es stimmt nicht
so ganz – jeder bemerkt es, aber es ist eben keine „Traurigkeit“, es ist mehr
ein Zustand… und wir Depressiven funktionieren einfach. Wir arbeiten, machen unseren
Alltag und wenn wir es nicht mehr verbergen können, dann merkt Ihr es: „Was ist
denn mit der los, die zieht sich ja völlig zurück, ruft nichtmehr an, wir sind
ihr wohl nicht mehr gut genug.“ „Ach die, die ist ja nur noch grantig, grüsst
kaum noch auf der Strasse, ist abweisend, pfff… die kann mich mal.“
Das sind meine Erfahrungen… während ich wie gelähmt
versuche den simpelsten Alltagskram wie: mich anzuziehen, mich zu duschen, meine
Familie zu bekochen; versuche zu erledigen, obwohl ich lieber im Bett liegen
würde und an die Wand starren – Elternabend, Geburtstagsparty der Freundin, Arzttermine
für die Kinder, Festbesuch im Ort – alles Dinge, die ich dann nicht einmal
annähernd auf die Reihe bekomme.
Was könnt Ihr tun, wenn Ihr jemanden in der Familie habt,
der dieses Problem hat? Ich weiss es nicht wirklich, denn das was mir hilft,
muss auf andere nicht zutreffen. Ich weiss nur, was nicht hilft:
Gutes Zureden, dass derjenige doch alles hat im Leben
Darauf drängen, dass derjenige sich zusammen reissen soll
Vorschlagen, sich doch mal eine Auszeit zu nehmen, ein
Blümchen für die Fensterbank kaufen, zusammen einen Kaffee trinken, dann sieht
die Welt schon anders aus…
Das sind Dinge, die helfen jemandem, der nieder geschlagen
ist oder schlecht drauf… bei uns hilft
das leider nicht.
Was nie verkehrt ist: da sein, ohne zu labern,
Verständnis haben, in den Arm nehmen, nicht alleine lassen, nicht warten bis
der andere sich wieder mal meldet … den Moment abpassen, in dem man ärztliche
Hilfe vorschlagen kann… in der Zwischenzeit als Angehöriger selbst
professionelle Hilfe einholen.
UND immer vor Augen halten: Depressionen sind nicht
heilbar, sie sind immer da, sie lauern im Hinterhalt, bis sie wieder
zuschlagen.
Ich hoffe, ich konnte ein winzig kleines Fenster in
unsere Welt aufstossen.
Danke für’s Lesen.
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